Arbeitsrecht -Aufatmen für Arbeitgeber?

Aufatmen für Arbeitgeber?

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 4. Mai 2022 - 5 AZR 359/22 entschieden, dass es bei der bisherigen Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess verbleibt. Daran habe auch die auf der Grundlage des EU-Rechts eingeführte Pflicht der Arbeitgeber zur Einführung eines Aufzeichnungssytems der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit, nichts verändert.

Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen beschäftigt. Mit seiner Klage begehrte er die Vergütung von 348 Überstunden in Höhe von insgesamt 5.222,67 EUR brutto. Die Arbeitszeit des Klägers wurde mittels eines technischen Zeiterfassungssystems aufgezeichnet. Allerdings erfasste das System nur Beginn und Ende der Arbeitszeit, nicht jedoch vom Arbeitnehmer eingelegte Pausenzeiten.

Das beklagte Einzelhandelsunternehmen wendete gegen die geltend gemachte Überstundenforderung ein, der Kläger habe bei seiner Forderung, die von ihm tatsächlich eingelegten betriebsüblichen Pausenzeiten nicht berücksichtigt. Der Kläger seinerseits behauptete, er habe aufgrund der engen Taktung der von ihm auszuführenden Aufträge keine Pausen gemacht, sondern während der Arbeitszeit ohne Unterbrechung seine Tätigkeit verrichtet. Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst vor dem Arbeitsgericht Emden obsiegt (ArbG Emden, Teilurteil vom 9. November 2020 - 2 Ca 399/18). Das ArbG Emden gelangte zu der Ansicht, dass das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 14. Mai 2019 - C-55/18 - [CCOO], die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess modifizieren würde. Der EuGH urteilte, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Das Arbeitsgericht Emden schloss daraus wiederum, dass die positive Kenntnis von Überstunden, als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung, jedenfalls dann nicht erforderlich sei, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da die Beklagte ihrer-seits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, sei die Klage begründet.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage - mit Ausnahme bereits von der Beklagten abgerechneter Überstunden - abgewiesen (LAG Niedersachsen, Urteil vom 6. Mai 2021 - 5 Sa 1292/20 -). Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das BAG folgte der Rechtsauffassung des LAG Niedersachsen, dass das EU-Recht nichts an dem bisherigen Grundsatz, der Arbeitnehmer habe die von ihm behaupteten Überstunden und deren arbeitgeberseitige Veranlassung darzulegen und zu beweisen, ändere. Die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG berühre die Frage der Darlegungs- und Beweislast – anders als vom ArbG Emden angenommen – nicht. Die Richtlinie diene ausschließlich der Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz sowie dem Gesundheitsschutz. Die
Richtlinie finde aber gerade keine Anwendung auf die Vergütung des Arbeitnehmers. Sie habe deshalb auch keine Auswirkung auf die nach deutschem, materiellem Prozessrecht entwickelten Grundsätze der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.

Zusammenfassend verbleibt es somit bei dem Grundsatz, dass ein Arbeitnehmer zur Geltendmachung von Überstundenvergütungen gehalten ist, Ort, Art und Dauer der abgeleisteten Überstunden dezidiert darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Die alleinige Anwesenheit eines Arbeitnehmers am Arbeitsplatz begründet noch keine Vermutung für die Durchführung von Arbeitsleistungen in dieser Zeit und damit auch nicht für geleistete
Überstunden. Deshalb begründet auch allein die widerspruchslose Entgegennahme eines Stundenzettels durch den Arbeitgeber noch keine Vermutung, der Arbeitgeber billige die unter Umständen darin aufgelisteten Überstunden durch seine Unterschrift. Gleichwohl ist hier aber Vorsicht geboten. Denn listet der Arbeitnehmer nicht nur die Zeiten, sondern auch die während dieser Zeiten ausgeführten Tätigkeiten auf, so liegt in der
Unterschrift eines solchen Stundenzettels durch den Arbeitgeber wohl die konkludente Billigung, mit der Leistung der konkreten Überstunden einverstanden zu sein.

Insoweit können Arbeitgeber also nach dem für „Aufhorchen gesorgten“ Urteil des Arbeitsgerichts Emden wieder etwas durchatmen. Nichtsdestotrotz darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass im Hinblick auf die zwingenden Vorschriften des Arbeitszeitgesetz (ArbZG) und den daraus resultierenden strafbewährten Pflichten an Arbeitgeber, das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 14. Mai 2019 - C-55/18 - zu beachten ist. In diesem sogenannten „Stechuhr-Urteil“ hatte der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG so ausgelegt, dass die Mitgliedstaaten in Umsetzung dieser Richtlinie die Arbeitgeber verpflichten müssen, die volle Arbeitszeit der Arbeitnehmer – wie mit einer digitalen Stechuhr – systematisch zu erfassen, also sowohl Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit als auch Unterbrechungen und Pausenzeiten. Zwar hat der deutsche Gesetzgeber dies Pflicht bislang noch nicht umgesetzt. Es verbleibt deshalb bislang bei der Verpflichtung nach § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG, dass nur über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Abs. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen ist. Gleichwohl ist aufgeschoben nicht aufgehoben, sodass Arbeitgebern zu raten ist hier zumindest perspektivisch proaktiv zu handeln.

Gerne steht Ihnen unser Arbeitsrechtsteam rund um die Thematik von Überstundenvergütungsprozessen aber auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Einführung eines mit der Richtlinie im Einklang stehenden Zeiterfassungssystems beratend zur Seite.

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