Neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum Urlaubsrecht von großer praktischer Relevanz

Liebe Leserin,
lieber Leser,

wir hoffen Sie hatten schöne Ostertage und vielleicht auch ein paar erholsame Urlaubstage. Der Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern beschäftigt nunmehr seit fast 9 Jahren die "Arbeitsrechtswelt" und hat mit der Entscheidung des EuGH vom 29.11.2017, Az. C-214/16 wieder eine neue Dimension erreicht.

Ausgangsfall

Der Ausgangsfall spielt in Großbritannien. Herr King war auf der Grundlage eines "Selbstständigen-Vertrags" bei einem Unernehmen angestellt, welches in Südengland Holzfenster und Holztüren vertreibt. Da Herr King ausschließlich auf Provisionsbasis tätig wurde, erhielt er keine Vergütung für Zeiten, in denen er sich in seinem Jahresurlaub befand. Nach Beendigung seiner Anstellung, die von den englischen Gerichten als Arbeitsverhältnis eingestuft wurde, verlangte Herr King für die Jahre 1999 bis 2012 - folglich für 13 Jahre - Urlaubsabgeltung für nicht genommenen bzw. nicht vergüteten Jahresurlaub!

Bisherige Rechtslage in Deutschland

Spätestens seit dem Jahr 2009 befindet sich die Rechtsprechung zum Urlaubsrecht in Deutschland auf einer wechselhaften Berg- und Talfahrt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte entschieden, dass der in einem Jahr nicht genommene Urlaub jedenfalls dann nicht zum 31. März des Folgejahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer aufgrund ununterbrochener Krankheit nicht imstande gewesen war, seinen Jahresurlaub vollständig zu nehmen. Der EuGH etablierte damit den Grundsatz, dass derjenige Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer unverschuldet nicht wahrnehmen kann, angesammelt wird. Dieser Grundsatz erfuhr duch eine weitere EuGH-Entscheidung im Jahr 2011 zumindest eine gewisse Einschränkung: so darf bei lang andauernder ununterbrochener Krankheit der Übertragungszeitraum zumindest auf 15 Monate beschränkt werden. Diese EuGH-Rechtsprechung hat gerade bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses eine besondere Relevanz; denn endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass zuvor eine Urlaubsgewährung wegen fortwährender Erkrankung möglich war, so ist der Arbeitgeber zur vollständigen finanziellen Abgeltung des angesammelten Urlaubs verpflichtet.

In Deutschland hatte die EuGH-Rechtsprechung mit Ausnahme derjenigen Fälle, in denen der Arbeitnehmer krankheitsbedingt daran gehindert ist, seinen Jahresurlaub zu nehmen, bislang keinen besonderen Einfluss, da das deutsche Recht abgesehen von wenigen Sonderkonstellationen, ein Ansammeln von Urlaubsansprüchen grundsätzlich ausschließt. Die neue EuGH-Entscheidung in der Rechtsache "King" bringt diese Einschätzung nun allerdings ins Wanken.

Auswirkungen durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtsache "King"

Der EuGH stellt zu dem o. g. Ausgangsfall erstmalig fest, dass bezahlter Jahresurlaub, der wegen der Weigerung des Arbeitgebers, Urlaubszeiträume zu vergüten, nicht genommen worden ist, bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses übertragen und angesammelt wird.

Die Übertragbarkeit von Jahresurlaub könne überhaupt nur in Ausnahmefällen beschränkt werden; da bei andauernder Krankheit eines Arbeitnehmers der Arbeitgeber zur Neuorganisation seiner Arbeitsabläufe gezwungen werde, sei in einem solchen Fall ausnahmsweise eine Begrenzung des Übertragungszeitraums geboten gewesen. Demgegenüber seiht der EuGH für den Regelfall jedoch keine schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers, so käme in der Folge auch eine Begrenzung des Übertragungszeitraums nicht in Frage.

Der EuGH führt weiter aus, dass "der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat"; der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub könne schon deshalb nicht verfallen, weil andernfalls der Arbeitgeber ungerechtfertigt bereichert werde. Der Anspruch auf Jahresurlaub dürfe zudem nicht von einem Antragserfordernis abhängig gemacht werden.

Praxistipp

Die Entscheidung des EuGH zwingt Arbeitgeber dazu, die praktische Handhabung der Urlaubsgewährung zu überdenken. Arbeitgeber sollten von sich aus die Inanspruchnahme des gesetzlichen Jahresurlaubs durch die Arbeitnehmer während des laufenden Kalenderjahres überprüfen und ggf. sogar konkret einfordern. Hierbei sollte stets berücksichtigt werden, dass auch geringfügig Beschäftigte (450-Euro-Jobs!), Auszubildende, Praktikanten oder im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes Tätige einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub haben. Auch hier können beachtliche Summen "auflaufen".

Zugleich steigt das finanzielle Risiko, das sich aus einer möglichen Scheinselbständigkeit von im Unternehmen eingesetzten Personen ergibt. Das Risiko einer fehlerhaften rechtlichen Bewertung eines Beschäftigtenverhältnisses trägt nach der Rechtsprechung des EuGH ausschließlich der Arbeitgeber. Nicht gewährter/nicht vergüteter Urlaub wird angesammelt und ist zum Ende eines Beschäftigungsverhältnisses zu vergüten. Die EuGH-Rechtsprechung ist nur auf den gesetzlich vorgeschriebenen Jahresurlaub anwendbar. Möglich bleibt es daher, zusätzlich gewährte Urlaubstage von einer Übertragung auszunehmen. Hiervon sollte auch in ihrer Praxis, zur Vermeidung unüberschauberer finanzieller Risiken, soweit wie möglich Gebrauch gemacht werden.

Bei Fragen rund um das Thema Scheinselbständigkeit und Urlaub stehen wir selbstverständlich gerne zur Verfügung.

Mit besten Grüßen aus Heidelberg

Ihr Arbeitsrechtsteam
Tiefenbacher

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